Ein Künstler darf nicht in den grauen Alltag hineinleben, ohne gesprochen zu haben

Sir András Schiff politisch beim Klavierfestival Ruhr

von Johannes Vesper

Sir András Schiff - Foto © 2023 Christian Palm

Sir András Schiff politisch beim Klavierfestival Ruhr in Bochum
 
Unendlich war der Strom, unendlich war das Elend, unendlich war das Leid“. Mit diesem Zitat des Komponisten Karl Amadeus Hartmann stimmte Prof. Ohnesorg zum letzten Mal als Intendant das Publikum dieses denkwürdigen Klavierabends im vollbesetzten Anneliese Brost Musikforum Ruhr zu Bochum ein.
 
Sir András Schiff betrat die Bühne, setzte sich an den Flügel und konzentrierte das Publikum auf sich mit der „Aria“ der Goldberg-Variationen als Vorab-Zugabe. Erster Höhepunkt des Abends. Er erzählte die Geschichte vom Musikalischen Opfer, von Friedrich dem Großen und J.S. Bach, sprach von der Kultur des 18. Jahrhunderts. Er stellte fest, daß Kultur und Politik nicht zu trennen seien. Kultivierte Menschen, mahnte er eindrücklich, müssen sich einmischen, was beim heutigen Elend an der mexikanischen Grenze, auf dem Mittelmeer, am Dnjepr, in Butscha oder Bachmut unmittelbar einleuchtet. Das folgende Ricercar á 3 bildete den zweiten Höhepunkt. Übergangslos begann anschließend in gleichem c-Moll das eigentliche Konzert mit der Sonate des eher unpolitischen Josef Haydn (Hob. XVI20), der mit seiner Musik weit in die Zukunft gewiesen hat. Ohne Haydn kein Mozart, auch kein Beethoven, den er unterrichtet hatte. Die c-Moll Sonate, vielleicht Haydns erste Sonate für Klavier (erstmalig dynamische Bezeichnungen!) gehört mit ihren kurzen, nahezu humorvoll ständig auftauchenden Sechzehntel-Ketten, mit fragendem Innehalten des musikalischen Flusses, Fermaten und Temposchwankungen zeitlich in die Periode des Sturm und Drang, vor allem mit dem letzten Allegro furioso. „Stürmisch, leidenschaftlich“ hat der Komponist hier vorgeschrieben. Da flogen im schnellen Dreier die Baßfetzen, überschlugen sich, spiegelnd im schwarzen Klaviaturdeckel, die Hände, zügelte der Pianist sein Temperament nicht. Ein dritter Höhepunkt.
Mit dem eigentlich zweiten Programmpunkt des Abends wurde die Musik politischer. In diesem Konzert ging es weniger um Haydn oder Beethoven. Nein, András Schiff ging es mit seinem Programm um politische Musik: um die Klaviersonate „27.April 1945“ von Karl Amadeus Hartmann, der die Zwangsevakuierung der Häftlinge des KZs Dachau durch die SS an diesem Tage unmittelbar vor der Befreiung am Starnberger See persönlich erlebt hat. Es ging ihm um die Pogromnacht vom 9.11.1938 (Auftragswerk des Klavierfestivals für Luca Lombardi) und um Leo Janaceks Sonate „1.10.1905“, die er Erinnerung an einen damals ermordeten Demonstranten in Brünn geschrieben hat.  
 
Karl Amadeus Hartmann (1905-1963) studierte 1924-1929 Posaune und Komposition, interessierte sich anfangs für Dadaismus, Spott, Parodie, komponierte Eine Jazz-Toccata und -Fuge, gewann mit seinem 1. Streichquartett den Genfer Carillon Wettbewerb, studierte bei Hermann Scherchen und 1941/42 bei Anton Webern. Nach dem Krieg leitete er bis zu seinem Tode die musica viva- Konzerte des Bayrischen Rundfunks. Sein Werk umfaßt u.a. eine Oper (Simplicius Simplizissimus (1935), ein Violinkonzert und vor allem acht Sinfonien. In der frühen Bundesrepublik wurde er u.a. mit der Arnold-Schönberg-Medaille, dem Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet und Mitglied der Bayrischen Akademie der Schönen Künste (1950). 1962 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Spokane University in Washington. Oft erscheinen seine Werke nicht in den Programmen. Seine fünf Miniaturopern („Wachsfigurenkabinett“), voll von Charleston, Blues und anderen Tänzen der 20er Jahre wurden immerhin letztes Jahr im Musiktheater im Revier und neun Jahre zuvor in Düsseldorf gespielt. Die Sinfonien werden nicht häufig und die Klaviersonate noch viel seltener aufgeführt, vielleicht auch deswegen, weil sie „technisch außerordentliche pianistische Fähigkeiten verlangt“. Das Werk beginnt verhalten mit tiefem Klavierbaß, der zu schriller Stakkato-Bewegung in höchste Höhen stürmt. Bekenntnismusik gegen Nazi-Verbrechen. Es wurde vermutet, daß der Komponist unter anderem das „Geräusch der sich dahinschleppenden Schritte, das Klappern der Holzschuhe und die Gewehrschüsse verewigt“ habe. Das war jetzt nicht eindeutig zu hören. Überhaupt stellt sich die Frage, ob konzertante Musik ohne Text, ob reine Klaviermusik per se politisch sein oder instrumentalisiert werden kann? Kann sie, wenn man den Anlaß, zu dem sie geschrieben wurde, beim Hören nicht vergißt. Die Zuhörerschaft zeigt sich jedenfalls am Ende tief beeindruckt, von dieser bedeutenden Klaviersonate des 20 Jahrhunderts.
 
Im Anschluß daran sprach der „einzig lebende Komponist des Abends“, der italienisch-israelische Komponist Luca Lombardi (geb.

Luca Lombardi - Foto © Johannes Vesper
1945) über sein Werk „Novembernacht“, welches als Auftragswerk des Klavierfestivals Ruhr von András Schiff uraufgeführt wurde. „Novembernacht“ ist nicht sein erstes politisches Werk. 2010 hatte er bereits „Gilgul“ für Trompete und Orgel zur Erinnerung an die Opfer des SS- Massakers von Sant`Anna di Stazzema (August 1944) geschrieben. Obwohl seine Familie unter Faschismus und Naziterror gelitten hatte, haben ihn seine Eltern auf die deutsche Schule in Rom geschickt, hat er in Köln mit Henze, Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann musiziert, auf dessen „Ich wandte mich um und sah alles Unrecht…“ er explizit verwies. Lombardi sprach von der Schwierigkeit über Musik zu reden, verwies auf Thomas Mann, der in seinem „Dr. Faustus“ dazu Maßstäbe gesetzt habe und bestätigte, daß sich eine Komposition, aus welchem Anlaß auch immer geschrieben, musikalisch im Konzertsaal bewähren müsse. Er erläuterte, daß er seinem Werk eine offene Tonfolge über zwei Quinten zugrunde gelegt habe und den Namen des Pianisten auskomponiert und hörbar gemacht habe. Den heftigen Akkordschlägen, den lange klingenden, schwebend-liegenden Klängen nachhörend, bestand Gelegenheit der menschlichen Psyche und ihren Abgründen meditativ nachzugehen.
 
Danach setzte die Sonate „1.X.1905“ von Leoš Janáček (1854-1928) aus dem Jahr, in welchem Hartmann geboren worden war, das Publikum in Erstaunen. Mit dieser Sonate hat der Komponist dem Schreiner František Pavlák ein musikalisches Denkmal gesetzt. „Er kam nur, um für die Hochschule zu werben, und ward von rohen Mördern getötet“ steht im Vorwort der Komposition. Böhmisch temperamentvoll, rhythmisch aufregend, sehr bewegt, aufwühlend mit differenziertesten Klangfarben und elegischer Melodik im Wechsel mit expressionistisch-schrillen Oktavierungen bot dieses kurze (gut 10 Minuten), herbe Werk viel Musik. Trauermusik ohne Trauermarsch, bei der die immer fragend aufsteigende Quarte, gefolgt von zwei kraftlos abfallenden Achteln, besonders berührte.
 Zuletzt gab es die berühmte Waldstein-Sonate (Nr. 21 op. 23 von Ludwig van Beethoven) irgendwie ganz anders als sonst mit starker Agogik, stellenweise beunruhigenden Verzögerungen und Akzelerationen, rasend schneller, wüster Durchführung des 1. Satzes. Die abgerissenen Sechzehntelfiguren erinnerten an die Haydn-Sonate des Anfangs. Nach dem himmlisch ausgespielten Adagio überraschte zuletzt das fast elegische ziemlich langsame Schlußrondo. Tosenden Applaus, Blumen gab es für dieses kräftezehrende, sozusagen athletische Mammutkonzert von mehr als drei Stunden Dauer, mit dem Andras Schiff einem zweiten Zitat von Karl Amadeus Hartmann sprachlich wie musikalisch voll gerecht worden ist:

 „Ein Künstler darf nicht in den grauen Alltag hineinleben, ohne gesprochen zu haben.“